Les extremes se touche

Unschärfe als "Abbildungsmangel" entsteht (gewollt oder ungewollt) durch mangelnde Auflösung und/oder Kontrast, bedingt durch Luftperspektive, Luftflimmern, schlechte Optik oder Einsatz einer Weichzeichnung. Weiter dazu zählen kann eine undefinierte, knappe Verwischung, welche nicht den Eindruck einer Absicht aufkommen lässt. Wie bei anderen Unschärfen gibt es auch hierbei unterstützende Elemente: Eine Zufälligkeit der Gestaltung, bildmässig unvorteilhafte Mittigkeit, ungünstige Abbildungsgrösse und leicht schräger Horizont, evtl. sogar Unter- oder Überbelichtung.

Das hört sich jetzt an wie die Anleitung zu einem schlechten Bild, wozu soll das gut sein?

Es macht ein Bild authentisch.

Wie bitte?

Nun ja, nicht jedes Bild, aber es gibt eine Kategorie von Bildern, welche davon lebt.

Von Naivität und dem Bösen an sich

Erinnern Sie sich noch an Ihren letzten Himalayaurlaub, das Bild vom Yeti, das Sie damals geschossen haben - Wie sah es aus? ... Ja, natürlich, es war unscharf. In der ganzen Hektik war es ja auch kaum anders möglich. Selbstverständlich, Sie können von Glück reden dass Sie mit Ihren klammgefrorenen Fingern überhaupt den Auslöser betätigen konnten - an Gestaltung und ähnlichen Luxus war schon gar nicht erst zu denken. Das Ereignis hat Sie schlicht und einfach überrannt, das Bild ist der lebende Beweis davon...

Elefanten in Biels Innenstadt, hat man so was
schon je mal gesehen? Ich hab sie sogar
fotografiert, ich bin ein Held! Leider ist das Bild
nicht ganz scharf geworden...

Sehen Sie, das nennt man authentisch. Deshalb sind alle Bilder von Yetis, Ufos und Nessies unscharf. All diese Bilder sind unbeholfene und deshalb ehrliche Schnappschüsse von Hobbyfotografen, frei von Kalkül und Verwertungsinteressen. Der Fotograf hat das Ereignis nicht nur fotografiert, er war selbst involviert. Die Unschärfe ist nicht mehr nur ein Teil des Abbildes, sie ist der unmittelbare Eingriff des Geschehens ins Bild. Die Unschärfe wird somit zu einem Wahrheitsfaktor: sie ist eine Spur des dokumentierten Geschehens weil dieses die Abbildung stört und somit direkt präsent ist.

Aber: nicht jedes Bild ist infolge der Unschärfe mit dem Unverfänglichbonus gesegnet - auch Paparazzibilder sind gelegentlich unscharf. Auch in diesen Fällen ist die Unschärfe eine Spur der äusseren Umständen, unter welchen die Bilder entstanden. Doch nicht das Überraschungsmoment führte zur Unschärfe, sondern die Tatsache, dass die Bilder gegen den Willen der aufgenommenen Person entstanden. Die fotografisch unvorteilhafte Situation führt zu ebenso unvorteilhaften Bildern. Und wiederum ist der zusätzliche Aspekt der nicht stattfindenden Gestaltung enthalten - wer Bilder klaut muss eben nehmen was er greift. Der zunehmende Grad der Unschärfe geht hier parallel mit zunehmender Verletzung von Persönlichkeitsrechten.

Paparazzibilder sind also unfreiwillig unscharf - es ist kaum erstaunlich dass auch dies interpretativ eingesetzt wird um den Bildern den Touch des Verbotenen (oder einen schlechten Ruf) gezielt anzuhängen. Die Werbung ist diesen Schritt schon gegangen, das Szenario zeigt den (nicht erkennbaren) Prominenten flüchtend, das zu bewerbende Gut (Schuhe, Uhr...) kommt dabei nur kurz ins Bild, gerade genügend lang um erkannt zu werden und zu zeigen, dass es der Welt der High Society angehört.

Es gibt aber auch noch eine weitere Art der Unschärfe: Fotos können ausbleichen, der Kontrast nimmt mit dem Lauf der Zeit ab und Farben verändern sich. Damit einher geht ein Verlust des Schärfeeindrucks. Zum eigentlichen Bild gesellt sich jetzt der Aspekt des Vergänglichen. Die technische Erscheinungsform wird zur Insignie des Reliquiaren. Diese Bilder werden zu Repräsentanten Ihrer Zeit.
Und noch etwas: Während sich das Motiv in den Beispielen des Yeti und Paperazzi nur knapp einfangen liess, hat es jetzt die Tendenz, wieder zu entweichen.

Blow Up

In erster Näherung gilt, dass ein Objekt umso mehr Details preisgibt, je grösser dieses abgebildet wird. Gehen wir näher an ein Bild heran - so werden bei einem "scharfen" Bild in einem ersten Schritt feinere Strukturen sichtbar. Rücken wir dem Bild jedoch mit der Lupe zuleibe, so wird es sich zurückziehen. Ab einem gewissen Grad der Annäherung wird eine Unschärfe dominieren, welche nicht mehr durchdrungen werden kann. Das Bild gibt seine Intimität nicht preis, es hat sich in Indifferenz zurückgezogen. Vieles, vielleicht entscheidendes einer Szene kann also nicht fixiert werden und ist für immer verloren. Antonioni hat in seinem Film Blow Up diesen Aspekt in Form extremer Vergrösserungen gezielt eingesetzt.

Unschärfe ist trendig

Ein wesentlicher Aspekt dieser Arten von Unschärfe ist der damit übermittelte nichtmaterielle Bildinhalt: weg vom Objektiven und hin zu einer subjektiven Wahrheit. Es handelt sich hier in starkem Masse um den Einsatz von Unschärfe als gestalterisches Mittel im Dienste der zu erzielenden Bildwirkung, wenn auch im Hinblick auf die durch Mängel vermittelte Authentizität mittels Selbstbezug: die Fotografie imitiert sich selbst.