Das Kulturmodell nach Vilém Flusser

Im Kulturmodell nach Vilém Flusser ist der Mensch ein Lebewesen, das sich von den übrigen durch die Tatsache unterscheidet, dass es nicht nur ererbte, sondern auch erworbene Informationen weitergibt und speichert. Das Weitergeben solcher Informationen ist menschliche Kommunikation, der Speicher für diese Informationen ist die Kultur, gespeichert wird mittels Kulturobjekten. Der Prozess des Weitergebens und Speicherns ist Geschichte.

Das Modell sieht etwas detaillierter folgendermassen aus:

Im eben skizzierten (noch unvollständigen) Modell sind unschwer Ideologien zu erkennen. Der Glaube an Technik und Fortschritt oder eine ganze Reihe von politischen Formen des Engagements, vom marxistischen bis zum liberalen. Kurz: wohl all das, was mit dem Wort Humanismus gemeint ist.

Allerdings bedarf diese Modell noch einer besonderen Erweiterung. Der kumulative Charakter des Modells, der Kulturspeicher wird immer grösser, widerspricht einer Eigenschaft, zu welcher praktisch alle Systeme neigen: sich in Entropie (populär: Chaos) aufzulösen. Alles entstandene, sei es zufällig entstanden, wie in der Natur, oder absichtlich erzeugt worden, wie in der Kultur, wird letzten Endes zerfallen. Wahrscheinlich ist bereits eine ganze Reihe vorangegangener Kulturen spurlos aus unserem Blickfeld verschwunden.

Die im Kulturspeicher gelagerten Kulturobjekte zerfallen jedoch nicht nur in Analogie zur oben erwähnten Entropie, sondern auch, weil Menschen sie konsumieren, der Schuh zerfällt weil er ausgetreten wird. Diese Auflösung von Kulturobjekten ist ebenso ein gradueller Vorgang wie deren Herstellung. Bevor die Kulturgegenstände völlig in die Natur zurückkehren, bilden sie eine Durchgangsregion von Gegenständen zwischen Kultur und Natur, nicht mehr Kultur und noch nicht Natur, den Abfall.

Die vier Gebiete des Modells - Natur, Halbfabrikat, Kultur, Abfall - können gewertet werden:

Dann sieht die Kulturzirkulation so aus:

Die Kommunikationsanalogie

Obiges Modell kann als Kommunikationsmodell interpretiert werden. Zentral für die Theorie zur Kommunikation (und die Diskussion hier) ist ein spezifischer Aspekt der Informationsbegriff, welcher besagt, dass die Information eines Zustandes um so höher ist, je unwahrscheinlicher dieser Zustand ist. Chaos (wahrscheinlich) hat demzufolge geringe Information und Ordnung (unwahrscheinlich) ist entsprechend Träger erhöhter Information.

Damit haben wir das zentrale Element eines einfachen Kommunikationsmodells zusammen, ein Medium beschlagen mit Information. Auch Sender und Empfänger müssen wir nicht weit suchen, wir okkupieren dafür einfach den Hersteller als Sender und den Konsumenten als Empfänger des Kulturobjekts.

Jetzt bleibt noch der zersetzende Aspekt im Modell: Wenn die Herstellung eines Kulturobjekts als Kommunikationsvorgang interpretiert werden kann, bei welcher Information vom Sender zum Empfänger weitergegeben wird, wessen entspricht dann der gegenläufige Vorgang von der Kultur zurück zur Natur, gibt es auch eine Kommunikation des Vergessens? Wird die der Herstellung entsprechende Kommunikation als Informierung betrachtet, so wird die dem Zersetzen entsprechende Pseudokommunikation zur Des-Information. Sie ist ein Gerede, zerredet die Information zu Voraussehbarem und damit Wahrscheinlichem. Information ist dies dann nicht mehr und kann anschliessend auch verlustfrei vergessen werde.

An diesem Modell lassen sich also grob zwei Bereiche unterscheiden:

Den Kopf aus dem Müll heben

Kultur produziert also Abfall auf dem Weg zurück zur Natur. Wo dieser Abfall ins Blickfeld gerät wird gemäss Vilém Flusser der Kulturzerfall, das Vergessen, der Tod, kurz das Absurde des Menschseins offenbar und es öffnet sich ein Abgrund unter den Füssen. Diesen Sturz aus dem Glauben an den linearen Fortschritt können wir überall konstatieren, nicht zuletzt vor dem Fernsehschirm.

Im Modell von Vilém Flusser öffnet sich aber auch eine Möglichkeit, aus dem Müll wieder empor zu tauchen: Flusser interpretiert den Menschen als ein gegen den Informationszerfall, gegen das Vergessen, gegen den Tod engagiertes Wesen. Dieser gräbt seine Informationen in Kulturobjekte und verwendet damit die Kultur als Gedächtnis gegen das Vergessen. Dabei kann der Mensch zwar nicht verhindern, dass die Kultur in die Natur zurückkehrt, er ist jedoch bemüht, den Rückfall aus dem Unwahrscheinlichen der Kultur ins Wahrscheinliche der Natur zu verzögern. Der Mensch will also die Zirkulation so regulieren, dass sich die Informationen so lange wie möglich im Gedächtnis Kultur häufen. So kann er zum Beispiel die Phase Halbfabrikat —> Kultur bremsen, oder die Phase Abfall —> Natur beschleunigen, damit der Müll möglichst nicht ins Gesichtsfeld kommt. Aber er kann auch Phasen umdrehen, durch Recycling wird Abfall in Kultur zurückgeführt, Wertloses soll damit wieder wertvoll werden.

Die Kitschthese

Vilém Flusser sagt, Kisch seien alle aus dem Abfall gefischten Phänomene.

Gibt es denn gar kein lohnenderes Thema?

Michael Albat

Das Recycling von Abfall zu Kultur produziert also nicht einen neuen Wert, sondern lässt einen Unwert entstehen. Kitsch ist eine Vergegenwärtigung von Vergangenem, viele Kitschphänomene lassen sich deshalb auch am Präfix Neo erkennen, als Beispiele führt Flusser Neoklassizismus, Neodarwinismus, Neoliberalismus, aber auch Neue Rechte und Neue Linke an. Kitsch ist somit ein allgemeines Kulturphänomen und nicht nur ein künstlerisches. Es gibt ebenso wissenschaftlichen und politischen Kitsch.

Weil Abfall aus Kulturobjekten besteht, aus denen die Informationen zum Teil schon ausgelöscht wurden, geht es gewöhnlich nicht darum, einzelne Phänomene aus dem Abfall zu fischen. Wirksamer ist es, in verschiedenen, sich überlagernden Schichten des Abfalls zu wühlen und die dort vorgefundenen Objekte zu Kitschobjekten zusammenzukleben. Dieses Zusammentragen von Informationsresten erweckt den Eindruck von Informationsreichtum.

Als ein Musterbeispiel dafür nennt Flusser den Nazismus: halb verbrauchter Nationalismus, Sozialismus, halb verbrauchte Mythen, Wissenschafts- und Geschichtshypothesen sollen den Eindruck von etwas Neuem erwecken und dabei doch leicht verdauliche Klumpen bilden. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Kitsch entgegen dem allgemeinen Empfinden nicht zwingend harmlos zu sein braucht.

Kitsch ist eine bequeme, gemütliche Methode, es sich im Abfall wohnlich zu machen.

Vilém Flusser

Kitsch zu produzieren verzögert den übermässigen Fluss der Kultur in den Abfall, der uns mit Dreck zu überfluten droht. Die Massenkultur, in der wir gegenwärtig leben, zeichnet sich aus durch ihr Gemenge aus Kultur und Abfall.

Kleiner Nachtrag

In einem Gespräch ist die bange Frage aufgetaucht, ob demnach klassische Schwarz/Weiss Fotografie fortan auch als Kitsch einzustufen sei. Eine berechtigte Frage, die sich mir bisher so nicht gestellt hatte.

Vor jeder Argumentation sollte man wissen, welches Resultat man erzielen will, ich für meinen Teil gedenke, Schwarz/Weiss-Fotografie nicht als Kitsch zu betrachten. In meinen Augen handelt es sich dabei um eine fotografische Form, bewusst gewählt und schon alleine durch diesen Umstand als Kitsch ungeeignet. Andererseits, wenn ich Bilder betrachtet, Motive wie sie immer wieder an Foto-Wettbewerben auftreten,

dann komme ich zum Schluss: doch, Schwarz/Weiss-Fotografien können durchaus Kitsch sein, aber dies findet seinen Grund nicht im Schwarz/Weiss. Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang einfach mehr Schwarz/Weiss-Fotografien, welche aussehen als wären sie heute gemacht worden. Dazu auch folgenden Satz:

Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.

Jean Jaurès