Die Elementare Form

Die Grundstrukturen der Form sind die elementaren Formen. Im wesentlichen sind dies der Kreis, das Oval, das Quadrat, das Rechteck sowie das Dreieck. Jede dieser elementaren Formen hat bezüglich Formeigenschaften ihren urtümlichen, die Empfindung bestimmenden Fingerabdruck, welcher sie auszeichnet.

Alle Kräfte konzentrieren sich im Kreis auf
dessen Zentrum.

Der Kreis

Die Wirkung des Kreies ist eine vollkommene Form. Alle Symmetrieachsen laufen durch seinen Mittelpunkt, alle Durchmesser sind gleich lang und keinem kommt dabei eine spezifische Bedeutung zu, dies im Gegensatz zum Beispiel zum Oval, bei welchem es einen langen und einen kurzen Durchmesser gibt. Ohne Ecken und Kanten weist somit beim Kreis nichts in eine spezifische Richtung, er hat kein nach aussen gerichtetes Element und ist deshalb die elementare Form mit dem geringsten Bezug zu seinem äusseren Umfeld. Daher wirkt diese Form in einem gewissen Masse auch unberührbar und verschlossen.

Alle Kräfte konzentrieren sich innerhalb des Kreises auf dessen Zentrum, welches er gleichmässig um- und abschliesst. Dadurch kriegt dieses Zentrum eine besonders starke Bedeutung, es ist wesentlich, wie bei einer Komposition innerhalb des Kreises das Zentrum eingesetzt wird. Diese starke Konzentration auf einen zentralen Inhalt zusammen mit der Unabhängigkeit vom Umfeldes liessen den Kreis zu einem Symbol werden. So wurden zum Beispiel mittelalterliche Landkarten, welche die Welt als kreisförmige Scheibe zeigen, so gestaltet, dass in deren Zentrum Jerusalem zu liegen kam.

Störe meine Kreise nicht!

(Archimedes, letzte Worte)

In der Komposition zieht der Kreis viel Aufmerksamkeit auf sich. Im oberen Bildbereich wirkt er leicht und schwebend, im unteren eher schwer und träge. Ein Anschnitt an einer oder zwei Seiten hilft, dem Kreis etwas von seiner Dominanz zu nehmen.

Urerfahrung Schwerkraft im Kreis.

Da der Kreis selbst keine Richtung privilegiert, können innerhalb des Kreises die zwei Urerfahrungen "Schwerkraft" und "Horizont" ihre entsprechenden Richtungen praktisch ohne Konkurrenz auszeichnen. Zumeist werden Objekte innerhalb des Kreises auch auf diesen Geraden platziert, allerdings nicht nur aus überlegtem Grunde, sondern auch weil der Innenraum des Kreises in den "Ecken" eben eingeengt weil abgerundet ist. Dadurch entstehen vorwiegend die inneren Gestaltungen zentrisch stehend oder liegend.

Die stehend zentrische Komposition im Kreis wurde oft bei Marienbildern verwendet, dabei handelte es sich bei der im Kreis eingeschlossenen Komposition meist um eine Dreieckskomposition, der Kopf oben erhaben, der Schoss unten schwer, im Zentrum das Jesuskind. Die im Kreis eingeschlossenen Komposition kriegt derart die Form eines nach oben gerichteten Dreiecks (Spitze = Kopf der Maria) und ist symmetrisch zur Senkrechte.
In Ikonendarstellungen umschliesst ein Kreis als Heiligenschein den Kopf der dargestellten Person. Dadurch wird deren geistiges Dasein stark betont, weil der Kreis eben um den Kopf gelegt ist und nicht um den Bauch, gleichzeitig ist die Person nicht von dieser Welt (Abgrenzung zum Umfeld). Auch Ying und Yang oder das Mandala basieren auf Kompositionen im Kreis.

Festhalten des Kreises in der Komposition
mittels Brücke zu seinem Umfeld.

Der Kreis hat für den Fotografen aber auch eine gestalterische Falle bereit. Die Bezugslosigkeit zu seinem Umfeld macht den Kreis innerhalb einer Komposition zu einem Element, dessen Position in der Bildfläche nur schwach verankert ist. Der Kreis scheint leicht verschiebbar zu sein, dieser Eindruck entsteht zum Beispiel wenn der Kreis eine Gerade oder den Bildrand nur an genau einem Punkt berührt, der Kreis wird dadurch zum Rad mit all seinen Folgen. Durch die leichte Beweglichkeit entsteht allerdings kein Spannungszustand, der Kreis weicht praktisch kraftlos. Die Folge des Zustandes ist nicht Dynamik, sondern Instabilität. Bei Kompositionen mit Kreis ist es sicher nicht falsch, wenn diesem kurz aber bewusst ein Gedanke gewidmet wird. Wie wird der Kreis in der Komposition gehalten? Geeignete Massnahmen sind Elemente über die Kreislinie hinweg wie bei nebenstehendem Bild mit der gelben Spirale oder Einbindung des Kreiszentrums in eine virtuelle, durch Punkte gebildete Linie oder Figur. Es braucht nicht viel um den Kreis zu halten, aber ein ungebundener Kreis ist flüchtig wie eine Seifenblase.

Das Oval

Im Vergleich zum Kreis büsst das Oval die zentrische Symmetrie ein, gewinnt dafür aber an Spannung. Durch die Längssymmetrieachse kriegt das Oval einen Bezug zur Umgebung, die Form ist diesbezüglich nicht mehr neutral und hat eine Richtung. Mit zunehmendem Verhältnis zwischen Länge und Breite ergeben sich in den Brennpunkten zusehends zwei neue Zentren, welche kompositorisch genutzt werden können wie zuvor das Zentrum des Kreises. Diese Zweiheit wird allerdings nur im liegenden Oval deutlich weil die Brennpunkte gleichberechtigt auf gleicher Höhe stehen, im stehenden Oval wird sie von der Hierarchie "oben und unten" überlagert.

Ein Kreis erscheint als Oval wenn wir ihn schräg betrachten. Ob er dabei die Eigenschaften eines Ovals annimmt oder als Kreis gesehen wird entscheidet unser Wahrnehmungssystem. Dieses testet beide Szenarien auf Plausibilität und wählt dann die glaubwürdigere Form für die Wahrnehmung.

Das Quadrat

Ein statisches Quadrat ohne Bewegungstendenz,
wohin sollte es auch gehen ...

Ein Quadrat in dynamischer Anordnung.

Ähnlich wie der Kreis ist auch das Quadrat zentrisch und symmetrisch. In Bezug auf die Wirkung des Zentrums ergibt sich somit eine Ähnlichkeit zwischen Kreis und Quadrat. Das Quadrat hat jedoch geradlinige Kanten und vier ausgeprägte Symmetrieachsen und somit Richtungskomponenten. Dadurch entstehen Bezüge zum Umfeld, die Wirkung des Quadrates wird von diesen geprägt. Im Umfeld der Komposition verhält sich das Quadrat gegensätzlich zum Kreis.

Steht das Quadrat bezüglich der Bildfläche gerade, so ist es darin fest verankert ohne grosse Bewegungstendenz. In dieser Lage wirkt das Quadrat ruhig, stabil, streng und passiv. Diese Lage stellt somit die Ruhelage des Quadrates dar.

Wird das Quadrat aus der statischen Ruhelage gedreht, so wird es dynamisch. Bei einer Drehung um 45° präsentiert sich das Quadrat in seiner Lage einerseits ausgeglichen, das Gleichgewicht wirkt aber fragil weil das Quadrat scheinbar auf der Spitze balanciert. Jeder kleine Einfluss könnte das Quadrat wieder in die Ruhelage kippen lassen. Bezüge zur Bildfläche bestehen weiterhin durch die Diagonalen innerhalb des Quadrates, welche jetzt waagrecht und senkrecht ausgerichtet sind. Diese Richtungen werden zusätzlich durch die Ecken des Quadrates stark betont.

Eine deutlich von 45° abweichende Drehung des Quadrates lässt das Quadrat den Bezug zur Bildfläche verlieren und bewirkt eine Spannung, welche vom Zentrum des Quadrates ausgeht und versucht, das Quadrat in seine statische Lage zurückzudrehen.

Das Rechteck

Gegenüber dem Quadrat gewinnt das Rechteck
an Spannung.

Durch die ungleich langen Seiten verliert das Rechteck gegenüber dem Quadrat die Konzentration auf das Zentrum, gewinnt aber an Spannung wie wir dies auch schon beim Oval gesehen haben. Dessen Tendenz, zwei Zentren auszubilden, besteht aber beim Rechteck kaum.

Das Rechteck besitzt zwei Ruhelagen, liegend und stehend (entsprechend Querformat und Hochformat beim Rechteck als Bildfläche), wobei die stehende klar aktiver wirkt als die liegende.

Das Dreieck

Ein liegendes, passives Rechteck und ein
Dreieck in stabiler Lage.

Dynamische Anordnung des Dreiecks mit der
Spitze nach unten.

Diagonale und Gegendiagonale.

Das Dreieck hat eine starke Richtungskomponente. Eine dynamische Grundwirkung ist somit inhärent durch die Form des Dreiecks gegeben.

Trotzdem entsteht bei waagrechter Basis eine Art Ruhelage, insbesondere bei gleichseitigen und nicht zu hohen Dreiecken. Die Pfeilspitze betont die Richtung nach oben. Bei niedrigen Dreiecken ist diese Spitze jedoch nicht allzu spitz und kann deshalb durch den Schwerpunkt des Dreiecks und die breite Basis kompensiert werden. Die leicht statische Wirkung in dieser Lage entsteht auch durch die Symmetrie um die Mittelsenkrechte.

Durch Variation der Dreiecksform und der Lage kann die Wirkung des Dreiecks stark beeinflusst werden. Ein Vergrössern der Höhe des Dreiecks in Ruhelage kann vorerst die Richtungskomponente nach oben verstärken. Wird durch seitliches Verschieben der Spitze die Symmetrie um die Mittensenkrechte aufgebrochen, so entsteht in der Bildfläche eine angedeutete Schräge oder Diagonale.

Nicht zuletzt kann das Dreieck aus der Ruhelage gekippt werden. Die Basis verläut dann nicht mehr waagrecht, das Dreieck steht auf einer Spitze. Vom Schwerpunkt aus wirkt jetzt eine Kraft, welche das Dreieck in seine Ruhelage zurückbringen will. Derart ist der stärkste Grad der dynamischen Wirkung erzielbar.

Dreiecke können in Kompositionen auch durch Anschnitte, schräge Komposition oder Diagonalen zusammen mit der Bildbegrenzung entstehen. Durch ihre Ausrichtung betonen die entstandenen Dreiecke automatisch auch die Gegenlinie zur Teilung verursachenden Linie.

Sind drei Objekte innerhalb einer Bildfläche anzuordnen, so stellt das Dreieck eine nahe liegende Anordnung dar. Jedes Objekt kann derart direkt mit den beiden anderen Objekten in Verbindung treten.  Angeordnet in einem Dreieck in Ruhelage verkörperte diese Gestaltung Klarheit, Ruhe und Harmonie.

Durch die Anordnung im Dreieck kann auch eine Ordnung angedeutet werden, wir kennen diese Struktur als Pyramidendarstellung. Der wesentliche Aspekt daraus, es gibt ein oben und ein unten und oben sind zumeist weniger Elemente als unten. Oben kann in dieser Anordnung mancherlei Bedeutung erlangen, sei es hierarchisch oder autoritär, aber auch beschützend oder schlicht und einfach eine Hervorhebung des hauptsächlichen Motivteils ist möglich. Insbesondere religiöse Motive wurden gerne so gestaltet, nicht zuletzt sah man im Dreieck auch die Dreifaltigkeit Gottes angedeutet.

Elementare Formen als Kulturformen

Bisher haben wir vor allem die geometrische Form besprochen? Es stellt sich die Frage, wieweit diese tatsächlich in der fotografischen Motivwelt existent sind? Diese Formen existieren in grosser Anzahl und vielen Ausprägungen. Geometrische Formen sind oftmals aber auch Kulturformen, dass heisst sie finden sich in grosser Anzahl überall dort wo der Mensch Spuren hinterlassen hat. Interessanterweise haben diese von Menschen gemachten Formen ihren Ursprung ebenfalls in einer Art Komposition. Am deutlichsten ist dies wohl in der Architektur ersichtlich. Als etwas gewagte Hypothese könnte man postulieren, das auch hier das Prinzip der Vereinfachung und Prägnanz am Werke war, allerdings auch im Hinblick auf die unmittelbare Verwendbarkeit, Architektur hat bekanntlich auch einen sehr praktischen Hintergrund.

Die freie Form

Bild: Michael Albat

Gelegentlich werden auch freie Formen als elementar erwähnt. Diese Formen sind jedoch nicht elementar, sie sind Kraft ihrer Definition eben frei und nicht durch spezifische Eigenschaften definiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch redundant sein könnten, so ist zum Beispiel die äussere Form eines Menschen aufgrund unserer unmittelbaren Erfahrung und des dadurch bedingten sofortigen Erkennens redundant. Dieses Erkennen geschieht jedoch nicht primär anhand der Form. Wenn man sich die verschiedenen möglichen Körperhaltungen des Menschen klarmacht, so erkennt man, das eine klare einheitliche Form des Menschen kaum existiert.

Die kurvenreiche weibliche Form hat in der Kunst nichts zu suchen.

(Seymour Skinner, Rektor in der Serie "The Simpsons")

Entsprechend zu den Kulturformen können die freien Formen als "Naturformen" angesehen werden. Sie repräsentieren vor allem den organischen Bereich - ein grosser Teil der Naturfotografie lebt von diesen Formen. Unter Umständen ist es eine reine Massstabfrage, wann der "Kulturbereich" ins organische übergeht. Dominiert in der Architektur die geometrische Form, so ist die äussere Grenze einer stark wachsenden Boomregion wohl schon wieder als organisch zu betrachten - die Gesellschaft wird zwar aus Menschen gebildet, aber zumindest in diesem Kontext nicht von ihm als Individuum kontrolliert. Aber auch in der unbeeinflussten Natur finden sich geometrische Muster, so z.B. bei Kristallen.

Über die Form können Kompositionselemente somit den Bereichen "organisch" oder "kulturbedingt" zugeordnet werden, es ergibt sich ein Formkontrast. Ein ähnlicher Effekt kann auch ohne Beteiligung freier Formen entstehen. In einem dominant "eckigen Umfeld" vermögen wenige runde Formen, zum Beispiel Kreise, den organischen Part zu übernehmen.