Letzte Worte

präsentiert von Michael Albat

Was ist Kunst?

Aus seiner Umwelt gewinnt der Fotograf Eindrücke, die er im Lichte seiner eigenen Erfahrungen, seiner Interessen und seiner Persönlichkeit auswertet. Unterscheidungsvermögen, Auswahl und Ablehnung gehen der Bildherstellung voraus. Ordnung, Klärung und technisches Geschick verwandeln sein Rohmaterial in eine Form, die durch Intensität des Sehens, suggestive Symbolisierung und grafische Wirkung bei weitem das Ergebnis des aktuellen Augenblicks übertrifft. Ist das erreicht, ist das Foto gut – Wirklichkeit ist zur Kunst geworden.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, die letzte Seite

Es kann sein, dass Sie mal Pech haben und in ein Gespräch über Kunst verwickelt werden: "Ist Fotografie Kunst?" "Wann ist Fotografie Kunst?" oder auch "Welche Fotografie ist Kunst?"
Mein Rat: Machen Sie sich vom Acker. Denn: Solche Gespräche sind fruchtlos, schon weil die Definition unklar ist. Ich biete Ihnen mal drei Definitionen zur Auswahl an.

Man spricht von der Koch- und der Programmier-Kunst, der Kunst des Liebens, der Kunst des Segelns, wohl auch von der Kriegskunst. Aus der Literatur kennen wir sogar "... die Kunst, ein Motorrad zu warten". Man meint mit dieser Art der Kunst dann die souveräne Nutzung und Benutzung aller ein Ergebnis beeinflussender Einflussgrössen zwecks Optimierung des Resultats.

Im Bereich der Fotografie nennt sich dies dann "Fine Art Printing".

Aber was sagt die Bibel? "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!": Das Ergebnis all dieser Kunstfertigkeit ist immer nur ein Kunststück, und eben kein Kunstwerk.

Kunst als Erlebnis: Mit dem Begriff des Kunstwerkes aber stossen wir nun zum Kern der Definition Feiningers vor: Wenn ein Foto durch Intensität des Sehens, suggestive Symbolisierung und grafische Wirkung bei weitem das Ergebnis des aktuellen Augenblicks übertrifft, wenn es mich ergreift und in mir Gefühle auslöst, dann weiss ich: ich habe ein Kunstwerk vor mir.

Aber: Das ist mir in dem Moment ganz gleichgültig. Ich weigere mich schlicht, bei einem Bild wie "Morgens 02:00h", "Der Weg" oder auch "Farm in Pennsylvania" darüber zu diskutieren, ob das nun Kunst ist oder nicht. Denn die Diskussion darüber trivialisiert das Erlebnis: Der Fotograf wollte mir etwas vermitteln, etwas zeigen, etwas sichtbar machen, und er offenbart mir damit unausweichlich auch seine eigenen Erfahrungen, seine Interessen und seine Persönlichkeit. Ein kostbarer Moment!

Digital Fotografie

Die anderen fotografieren um der Bilder willen, genauer gesagt, der Motive wegen, an denen sie interessiert sind. Im Gegensatz zu den Erstgenannten, die nur von der Technologie fasziniert sind, gilt ihr Interesse bestimmtem Motiven – Menschen, Naturobjekten, Landschaften, Strassenszenen, Bauwerken, Insekten, Vögeln usw.
Solche Motive begeistern sie, sie möchten sie im Bild festhalten und damit besitzen, nach Hause mitnehmen, immer wieder betrachten und ihre Freude daran mit anderen Menschen teilen. Nur weil ihnen andere visuelle Gestaltungsmittel wie Malen oder Zeichnen fremd sind oder nicht praktikabel erscheinen, verfallen sie auf das Medium der Fotografie. Und da sie einsehen, dass technisch einwandfreie Fotos das Motiv ihrer Wahl zwangsläufig besser wiedergeben als mangelhafte, lassen sie sich auch auf die technische Seite der Fotografie ein. Trotz allem sind sie die besseren Fotografen, auch wenn sie kein tieferes Interesse am Medium der Fotografie äussern, denn sie verstehen Aufnahmen zu machen, die den Betrachter fesseln. Wenn Sie, lieber Leser, zu dieser zweiten Gruppe gehören, dürften wir gut miteinander auskommen.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979

Von daher hätte Feininger an der Digital-Fotografie nichts auszusetzen gehabt. Er wäre dafür gewesen. Vielleicht noch nicht heute, weil die Ergebnisse noch nicht an die Arbeit im Labor herankommen. Aber in 5, 6 Jahren, wenn eine Digitalkamera mit den Leistungsmerkmalen einer Nikon D1 noch 250CHF kostet, dann bestimmt. Die ganze Chemie-Panscherei, diese endlosen Versuchsreihen für Film/Entwickler- und Papier-/Entwickler-Kombinationen, das ganze Gewurstel mit Kontrasten und Dichten und Zonensystem: an alledem hängt sein Herz nicht. Ich bin fest davon überzeugt: Er würde mit Freuden seine gesamte Dunkelkammer-Ausrüstung der Sperrmüllsammlung übereignen.
Aber: Wogegen er gewesen wäre, ist das gedankenlose Abschiessen von Motiven, die dann am PC irgendwie zurechtgebastelt und mit einer Sosse von feurigen Farben übergossen werden, damit das für den Massengeschmack geniessbar wird.

Ich kenne nichts Schrecklicheres als das Geräusch einer flachen Hand, die klatschend auf den Boden einer Flasche Tomatenketchup trifft, das sich dann auf eine Ladung völlig unschuldiger Pommes frites ergiesst.

Sir Alfred Hitchcock

Digitalfotografen erzählen mir immer wieder, wie wunderbar das ist: Abdrücken – Bildwirkung kontrollieren – verwerfen – überschreiben. Digitalfotografie, so sagen sie, ist schnell, billig, einfach! Schnell hinein! Und noch schneller wieder heraus, vermutlich. Ich kann da nur mit dem Kopf schütteln: Welche Einstellung zu dem Motiv wird da deutlich! (Wahrscheinlich dieselbe wie zur Digitalfotografie: Schnell, billig, einfach... Und so sehen die Bilder denn ja meist auch aus.)  Nicht die verwendete Technik, sondern die hinter der Verwendung stehende ist entscheidend! Ich will jetzt nicht sagen, dass alle Digital-Fotografen diese Geisteshaltung zeigen: Einige meiner besten Freunde sind Digital-Fotografen. Aber weiter möchte ich mich mit ihnen auch nicht einlassen!

Bildbeurteilung

Meiner Ansicht nach ist es ungerecht, eine Fotografie ohne Kenntnis des Zusammenhangs mit den Absichten ihres Herstellers zu beurteilen. Mit anderen Worten: Nur wenn wir wissen, was ein Fotograf erstrebte, was er mit seiner Arbeit auszudrücken versuchte, was er mitzuteilen wünschte, können wir mit Rücksicht auf die wesentlichen Punkte des Bildes gültige Schlüsse ziehen: War er imstande, seine Absichten zu verwirklichen? Hat er mit Erfolg ausgedrückt, was er fühlte? Hat er sein Motiv richtig erfasst und überzeugend zum Ausdruck gebracht?

Die Wichtigkeit dieser Art von Einstellung wurde mir vor einigen Jahren deutlich, als ich in einer Ausstellung ein Landschaftsfoto von Cape Cod sah, das alle konventionellen Regeln der Fotografie zu verletzen schien: Es war sehr grau und sehr körnig, der Horizont teilte das Bild in zwei gleiche Hälften, und es zeigte tatsächlich nichts anderes als weit ausgedehnte Dünen, die spärlich mit Strandhafer bewachsen waren, und einen gleichmässig bedeckten Himmel. Die Wirkung dieses Bildes war unglaublich trüb und einförmig.

Und dann, als ich ihm gerade den Rücken zukehren wollte, wobei ich mich noch wunderte, wie irgend jemand überhaupt ein derart langweiliges Bild ausstellen kann, ergriff es mich: das war ja genau das, was der Fotograf im Sinne hatte, er wollte Trübheit und Eintönigkeit ausdrücken, die niederdrückende Einsamkeit dieser weiten Sandflächen an einem regnerischen Märztag, das Gefühl von Nässe und der feuchten Kälte unter einem harten Nordostwind, diese Stimmung von Trostlosigkeit und Eintönigkeit, wenn alles grau in grau ist, von Schleier ziehenden Nebeln überdeckt, und er hatte das grossartig ausgedrückt. Plötzlich fühlte ich mich so, als ob ich dort wäre, ich fühlte die Kälte, die Einsamkeit, ich glaubte schon, ich könnte den verlorenen Schrei einer Seemöwe hören, die sich mit flatternden Flügeln gegen die steife Brise behauptet... Ich glaube nicht, dass ich dieses "unglaublich trübe" Bild je vergessen werde.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, S.444

Technische Daten

In den Bildseiten dieses Buches werden keine "technischen Daten" den fotografischen Illustrationen als Ergänzung beigegeben. Wenn man sie auch in jeder Fachzeitschrift findet, sind doch solche Angaben – Kamera, Blende, Belichtungszeit usw. – wertlos und irreführend. Ich sehe einfach nicht ein, warum man darin einen Unterschied machen soll, ob ein Bild mit, sagen wir, einer Leica an Stelle einer Pentax, einer Rolleiflex an Stelle einer Rolleicord aufgenommen worden ist, oder was es dem Fotografen helfen kann, wenn er erfährt, dass das veröffentlichte Bild eines Motivs, das ihn interessiert, beispielsweise mit 1/60 Sekunde bei Blende 11 fotografiert wurde, solange er nicht gesagt bekommt, wie hell das Licht war oder welche Art von Beleuchtung vorherrschte. [...] Technische Daten der Aufnahmen anderer, selbst wenn sie ganz ehrlich und vollständig sein sollten, was meistens jedoch nicht der Fall ist, sind wertlos.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979 S.442f

Komposition

Andererseits sind die oft gepriesenen akademischen "Gesetze" der Komposition auch keine wirkliche Hilfe. All dieses Gewäsch von "Leitlinien", die dazu da sind, "das Auge des Beschauers zum Mittelpunkt des Interesses" zu führen, wurde längst von qualifizierten Fotografen widerlegt
[..]
Eine "Dreiecks-Komposition" existiert gewöhnlich nur in den Köpfen gewisser nach akademischen Regeln arbeitender Fotografen, wird aber nur höchst selten vom Durchschnitts-Betrachter des Bildes als solche aufgefasst. Gewöhnlich erkennt er sie nur dann, wenn er ausdrücklich darauf hingewiesen wird, und auch dann beachtet er sie kaum. Meiner Meinung nach sind alle diese hübsch gezeichneten Diagramme, wie man sie in vielen Fotobüchern findet, die die kompositionellen Anordnungen "erklären" sollen, nicht anderes als Schaufensterdekorationen oder Seitenfüllung, um den Käufer zum Kauf zu bringen. Sie verwirren eher den Anfänger, als dass sie ihm helfen. Sie sind also überflüssig. Der Zweck eines Lehrbuches liegt nicht darin, als Lehrer für kindische Experimente zu dienen.
[..]
Komposition ist Mittel, nicht ein Ende, und die vollkommenste Komposition rechtfertigt noch nicht ein belangloses Bild.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979 S.434

Licht und Beleuchtung

Licht und Beleuchtung: Das Medium des Fotografen ist das Licht. Abgesehen von groben Fehlern in der Aufnahmetechnik, ist das Licht wohl der wichtigste Einzelfaktor für die Ausdruckskraft eines Bildes. Seine Hauptfunktionen sind: 1. Bestimmt es die Belichtungszeit. 2. Im Wechselspiel mit dem Schatten ruft es die Illusion von Raum und Tiefe hervor. 3. Es verleiht der Aufnahme ihre Stimmung.
Leider schenken viele Fotografen nur Punkt 1 ihre Aufmerksamkeit und lassen Punkt 2 und 3 unbeachtet. Das hat voraussehbare Folgen, denn Licht ist weit mehr als nur ein ablesbarer Wert auf dem Belichtungsmesser oder bestimmte Helligkeitsabstufungen nach dem "Zonensystem".

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, S.24

Zufall

Angesichts eines besonders dramatischen oder erregenden Bildes hört man oft Ausrufe wie "Welches Glück hatte der Fotograf", und "Das muss doch wohl ein Zufallstreffer sein" Gelegentlich mag es eine Tatsache sein, dass der Fotograf ein solches Bild nur seinem Glück verdankt, aber meist ist es doch die wohlverdiente Belohnung für harte Arbeit.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979

Andererseits gibt es auch Überraschungsmotive, an denen die meisten vorbeigehen, sich aber dann, wenn sie sie in Bildform sehen, (etwa in einer Ausstellung oder illustrierten Zeitschrift – natürlich von jemand anderem aufgenommen), ärgerlich und neiderfüllt fragen: "Warum ist mir das bloss nicht aufgefallen? Wie konnte ich das übersehen; wo hatte ich meine Augen?" Zu typischen Beispielen dieser Art von Motiven gehören Grossaufnahmen gewöhnlicher Objekte – eine verwitterte Tür, eine Spiegelung in gekräuseltem Wasser, eine Wand, von der die Farbe abbröckelt, ein paar hohe, schlanke Gräser, gegen den Himmel gesehen – Motive mit wenigen, aber kräftigen Farben und wenigen, aber klaren, kräftigen Formen.

Andreas Feininger, Richtig sehen – besser fotografieren, 1973

In neuem Licht "sehen"

Bei der Motivwahl für euere Bilder kommt es nicht so sehr darauf an, was ihr seht noch wie ihr seht, sondern vor allen Dingen darauf, was ihr darin seht. Mit anderen Worten: Es ist weniger wichtig, wie ihr etwas fotografiert, sondern warum ihr es tut. Das Warum ist der Schlüssel zum Wie. Wenn ihr wisst, warum ihr ein bestimmtes Motiv fotografieren möchtet, dann ergibt sich das Wie ganz von selbst; es folgt aus dem Warum.

Andreas Feininger, Richtig sehen – besser fotografieren, 1973

Hier haben wir es also wieder mit einer Art des "Sehens" zu tun – diesmal mit dem geistigen Auge. "Sehen" im Sinne von "Was hat er bloss in ihr gesehen"... "Sie sieht alles in rosigem Licht"... "mit kritischem Auge"... "Da sehe ich ziemlich schwarz"... "Sehen sie die Sache doch mal so an"... "Plötzlich sah er sie in neuem Licht"... usw. Es gibt so viele Arten des Sehens, so viele verschiedene Sichten.

Andreas Feininger, Richtig sehen – besser fotografieren, 1973

Verfremdungen

Andererseits ist die Jagd nach dem Ungewöhnlichen nur mehr der Neuigkeit willen meiner Ansicht nach ein witzloses Unterfangen, bei dem nichts weiter herauskommt als synthetische Trickkistenbilder. Beispiele dieser Art sind Aufnahmen durch vervielfachende Prismen, aus unerfindlichen Gründen durch farbige Folien hindurch fotografierte Farbbilder, oder Ansichten durch den Raster eines Belichtungsmessers – aus meiner Sicht reine Spielereien ohne Sinn und Verstand.

Andreas Feininger, Richtig sehen – besser fotografieren, 1973

Wird eine bestimmte Wirkung als Selbstzweck verwendet und gehört sie nicht als Bestandteil zum Bild, verliert das Bild den Zusammenhang mit dem Sinn des Motivs oder mit dem Charakter der Stimmung. Erregt es dann auch anfänglich Aufmerksamkeit, ist die unangebrachte Wirkung doch gleichzeitig die Ursache dafür, dass man das Bild als "billig" und "unecht" zurückwies, und damit wird die eigentliche Absicht vereitelt. Sinnlose Verzeichnungen, vulgäre Farben (Postkarten-Wirkung), kritiklose Verwendung von Filtern oder von farbigem Licht, Aufnahmen durch Trickeinrichtungen wie Prismen, strukturiertes Glas oder Zerstreuungsgitter, sind Beispiele dafür.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979 S. 446