Anschliessend werden die zehn meiner Ansicht nach wichtigsten fotogenen Eigenschaften aufgezählt. Je mehr von diesen Eigenschaften ein Objekt besitzt, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es wirkungsvoll im Bilde erscheint. Andererseits: je weniger dieser Eigenschaften es besitzt, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein enttäuschendes Bild ergibt.
- Klarheit und Einfachheit in bezug auf Anordnung, Form und Farbe.
- Kontrast, d.h. gute Differenzierung in Hinsicht auf Farbe, Tonwerte und räumliche Elemente
- Formen von klarem Schnitt; interessant und kühn
- Umrisslinien, die typisch für das Objekt sind, kräftig oder ungewöhnlich, klare Silhouetten
- Grafischer Aufbau, d.h. künstlerisch wirksame Anordnung in Bezug auf Linien, Formen und Verteilung von hellen und dunklen Bildelementen
- Tiefe, suggeriert durch Fluchtlinien, Objekte, die in verschiedenen Ebenen liegen, oder Luftperspektive
- Struktur, die die Oberfläche des Objektes charakterisiert und belebt
- Einzelheiten, die sinnvoll und klar sind
- Spontaneität und Bewegung, die auf Tätigkeit und Leben hindeuten
- Muster, Rhythmus und Wiederholung interessanter, verwandter Formen
Andreas Feininger, Die hohe Schule der Fotografie, 1961 (2000)
Bild: Michael Albat
Im Rahmen dieses Artikels ist dies alles, was ich zu dem weiten Feld der "Komposition" sagen werde: Die
ganze "Hohe Schule" und wesentliche Teile der "Fotolehre" beschäftigen sich mit den hiermit
zusammenhängenden Fragen. Es wäre vermessen, das alles hier konzentrieren zu wollen.
Allerdings: Es gibt eine Faustregel:
Das fertige Bild soll von uns und anderen Menschen betrachtet werden. Wir müssen es folglich so einrichten, dass es dem menschlichen Auge (und dem menschlichen Gehirn) wohlgefällig ist. Unser Gehirn jedoch ist immer noch das der Jäger und Sammler; zunächst darauf eingerichtet, Lebendes zu erkennen; Lebendes, das essbar, ein Feind oder ein Paarungspartner sein könnte. Lebendes - Tiere mehr noch als Pflanzen - erkennt das Auge an den Konturen und Kontrasten, auch an der Symmetrie. Mustern wir nun die obige Liste unter diesem Aspekt, so erkennen wir, dass es aufgeht ohne Rest.
Der bildwichtigste Teil, um den sich das Bild gruppiert, wird als Dominante bezeichnet. Die wichtigste Dominante ist
der Horizont. Wenn er enthalten ist, sollte er gerade sein; oder genauer: Man sollte sich dies sorgfältig
überlegen, wenn man von dieser Regel abweichen möchte. (Meine Meinung: Wenn schon, denn schon...).
Liegt eine Dominante quer im Bild, so wird sie von unserem Gehirn stets als "Horizont" interpretiert: Das
darunter liegende wird als erdig-schwer-realistisch, das darüber liegende als himmlisch-leicht-abstrakt
"gesehen".
Zu meinem Erstaunen las ich bei Angelika Beckmann (in Feininger - Vater und Söhne), dass Feininger "in einem Vorwort 1945 eindrücklich zu den Prinzipien der "straight photography"" bekannt hat, wo Negative insbesondere auch nicht durch Beschneiden der Bildformate manipuliert werden dürfen. Diese rigide Haltung hat er später aufgegeben; in der "Fotolehre" gibt es einen eigenen Abschnitt "Formatproportionen" (S. 427). Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass er sich so zum Sklaven der "zufällig" verwendeten Kameratechnik gemacht hat, dass er die Wirklichkeit auf 2*3 (bei KB-Fotografie) und quadratisch (bei 6*6) abbilden muss. Ich jedenfalls teile diese Ansicht nicht. Allerdings sollte das Format beim Auslösen der Kamera feststehen, und man soll dann stets bestrebt sein, das Negativ voll auszunutzen; entweder in der Breite oder in der Höhe.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass sich Feininger der Gruppe "f/64" zugerechnet hätte, die sich durch die Angabe der Blendenzahl dem Motto "Alles scharf" verschrieben hat. Ich weiss nicht, ob das stimmt; kann schon sein, denn er erklärt wohl das Prinzip der "Selektiven Schärfe", aber so ganz davon überzeugt ist er wohl nicht. Auch in der obigen Aufzählung spricht er ja von der Schärfe nicht.
Das ist bei mir anders: Ich liebe, gerade zur Darstellung der Tiefe, das Spiel mit der Schärfe.