Geh dichter ran

Überladene Motive wirken unordentlich und verwirrend - eine unfotogene Charakteristik von Anfängern, die fest entschlossen zu sein scheinen, soviel wie nur möglich in ein Bild hineinzustopfen. Offenbar hegen sie den Glauben, was dem umherschweifenden Auge gefällt, müsse auch in Bildform wirkungsvoll sein, und vergessen dabei, dass ein Bild feste Grenzen hat; je mehr sie in diesen engen Rahmen hineinzwängen, desto kleiner und unscheinbarer wird alles. Diese ganz und gar unfotogene Gewohnheit werden sie nur dann ablegen, wenn sie lernen, "fotografisch zu sehen" - in diesem Zusammenhang: ein aus vielen Einzelheiten bestehendes Motiv optisch zu zerlegen und einzelne Teile getrennt zu fotografieren. Hierzu gehört übrigens auch die Beobachtung, dass fast alle Anfänger, die sich ein Zweitobjektiv zulegen, Weitwinkelobjektive wählen, die von demselben Kamerastandpunkt aus ein noch weiteres Bildfeld erfassen als Normalobjektive und somit die unfotogene Angewohnheit, zu viel auf das Bild zu bringen, noch verschlimmern. Meiner Meinung nach wären sie besser beraten, wenn sie ein mittleres Teleobjektiv nähmen, was wegen seines engeren Bildwinkels alles im grösserem Massstab abbildet und dadurch die Bildwirkung verbessert.

Andreas Feininger, Richtig sehen – besser fotografieren, 1973

Bild: Michael Albat

Als ich 1977 mit dem Fotografieren anfing, kaufte ich mir nach der Erst-Ausrüstung (1.8/50mm) auch ein 24mm Objektiv. Und das Büchlein. Und nachdem ich dann diese Sätze das erste Mal gelesen hatte, und nachdem mein bisheriges Werk so an meinem gedanklichen Auge vorübergezogen war, erhob ich mich still aus meinem Sessel, wanderte in die Stadt hinunter und besorgte mir ein 135mm-Objektiv, das dann für lange Jahre zu meinem Standardobjektiv wurde.

Kalt erwischt – das passiert einem bei der Lektüre von Feininger immer wieder...