Unscharf mein teurer Freund ist alle Theorie

Schärfe/Unschärfe ist kein homogenes Thema. Ursache und Wirkung von Schärfe spannen den weiten Raum von der Perspektive bis zur Wirkrealität auf. Jede Diskussion zum Thema artet entsprechend zu einem unheilvollen Chaos aus - aufgrund unscharfer Definition des Begriffs. Ich werde hier versuchen, diesen Umstand zusätzlich zu verschlimmern.

Scharfe Bilder sind ein erschöpfendes Thema für viele Amateur-Fotografen. Es ist dies ein Gedanke, welcher seinen Vorteil aus der Tatsache schöpft, dass es einen klar aufgezeichneten Weg der Steigerung und Perfektionierung hin zu diesem Ziel gibt. Auch steht dieses Ziel in enger Übereinstimmung mit der äusseren Erfahrung, dass die technische Entwicklung der Fotografie in ebendieser Richtung verläuft (darin gründet auch die Attraktivität von Optiktests), ergo kann es nicht falsch sein. Für das Erreichen dieses Ziels scheint eine breite Anerkennung wahrscheinlich, scharfe Bilder sind somit erstrebenswert (Klassische Konditionierung, Pawlows Hund lässt grüssen).

Wünsche Dir nicht zu scharf das Auge, denn wenn Du die Toten in der Erde siehst, siehst Du die Blumen nicht mehr.

(Christian Friedrich Hebbel)

Aber ich will hier auch nicht irgendwelcher Schludrigkeit den Weg bereiten. An der technischen Beherrschung der Fotografie ist soweit nichts falsch. Wesentlich ist alleine, die Klaviatur der fotografischen Möglichkeiten gewinnbringend zu nutzen, dazu gehört eben auch das Spiel mit der Unschärfe, Schärfe alleine macht noch kein Bild. Von nur scharfen Bildern geht zumeist kaum (sprich: keinerlei) Faszination aus. Der Fotograf soll keiner selbst auferlegten einseitigen Beschränkung unterliegen, welche in seiner Betrachtungsart der Fotografie wurzelt.

Kurz: Was ist Schärfe?

Insbesondere ist Schärfe kein technischer Begriff. Das Wort steht für eine Wahrnehmungsempfindung, welche hauptsächlich auf Kontrast und Auflösung beruht. Schärfe ist ein Kind unseres Wahrnehmungsapparates. Man könnte von einem Prägnanzaspekt der Abbildung sprechen, welcher ein müheloses und unmittelbares Erkennen von Ecken, Kanten und Strukturen erlaubt. Aber: Auch ein unscharfer Grund erleichtert die Erkennbarkeit einer normalscharfen Figur (Figur-Grund-Beziehung). Schrift auf feiner Struktur - z.B. Rasterhinterlegung - wirkt unscharf. Auf unstrukturiertem Hintergrund wirkt sie schärfer, dies obwohl der strukturlose Hintergrund einem Detailverlust entspricht. Durch den Begriff Schärfe ergibt sich auch der Begriff der Unschärfe, so wie es das Gute auch nur wegen dem Schlechten gibt.

Obwohl das Auge streng genommen wie jede Optik auch eine Schärfeebene hat, realisieren wir diese nicht. Unsere Wahrnehmung setzt das Bild der Umwelt zusammen aus scharfen Elementen vieler Eindrücke. Unschärfe ist somit eine fotografische Erscheinung und gehört nicht zu unserer täglichen Erfahrungswelt. Scharfe, detailreiche Bilder scheinen daher in erster Näherung die Wirklichkeit "augenrichtig" wiederzugeben.

Entsprechend stellt Unschärfe einen ersten Bezug zu einer nichtrealen Welt dar. Während die scharfe Stelle die reale Existenz der Motive beglaubigt und Auskunft über deren irdische Verfasstheit gibt (Gruppe f64 - Aussage: Präsentieren statt Interpretieren), suggeriert die Unschärfe eine spirituelle Qualität.

Wirkung und Entstehung unterscheidet verschiedene Arten von (Un)schärfen:

Jede dieser (Un)schärfen hat bezüglich Bildwirkung ihren spezifischen Charakter. Gemeinsam haben sie, dass sie idealerweise durch andere gestalterische Mittel unterstütz werden.

Fragen, die zwar nicht den gestalterischen Teil von Schärfe betreffen, aber immerhin seinen technischen: