0. Einleitung

Text und Bilder: Michael Albat

Im Jahre 1979 veröffentlichte Andreas Feininger sein Hauptwerk "The complete Photographer", und seit dieser Zeit beschäftige ich mich mit Fotografie. Natürlich nicht wegen dieses Buches, sondern wegen eines Mädchens, das Regina hiess.

Im Jahre 1999 ist Andreas Feininger dann gestorben, uns seit dieser Zeit tummele ich mich im Internet. Natürlich nicht wegen des Todes von Andreas Feininger, sondern weil ich mich fragte, ob es ausser mir noch andere Menschen gibt, die Interesse an meiner Art der Fotografie haben: die der grossen amerikanischen Fotografen des letzten Jahrhunderts; schlichte, ungetonte, analoge Schwarz-Weiss-Fotografie. Ergebnis: Einige gibt’s. Oder vielmehr: Einige gab’s. Wie schön, dass wir uns leicht über fotografische Themen unterhalten können! Auch können wir Foto-Kopien unserer Bilder austauschen!

Glücklicherweise stiess ich schon früh auf Andreas Homepage. Das hat mich dann doch mit manchen Erfahrungen versöhnt, die ich später im Internet machen musste. Besonders gefiel mir, dass hier die Fragen aufgegriffen wurden, die heute anders beantwortet werden wollen als Feininger es vor 25 Jahren tat.

Bild: Michael Albat

Bild: Michael Albat

Einer der wesentlichen Vorzüge des Werkes von Andreas Feininger besteht nämlich darin, dass dort alle Fragen zur Fotografie aufgeworfen und betrachtet worden sind. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass - besonders zu den eher technischen Fragen – unsere Antworten heute anders ausfallen als damals. Auch haben manche Fragen mit dem Aufkommen der Digital-Fotografie einen anderen Stellenwert bekommen; zusammenfassen könnte man diese Fragen als die Frage nach der Motivation des Fotografen. Warum fotografieren wir überhaupt? Wem will ich was beweisen? Was will ich wem beweisen? Und wenn ich schon fotografiere: Warum dieses Motiv - und nicht ein anderes? Und: Warum so - und nicht ganz anders?

Natürlich hat sich Feininger hierzu geäussert: "Wenn sie das nicht wissen, werden sie Tüchtiges nicht leisten können." Nun, recht hat er ja, aber so recht weiterhelfen tut es ja auch nicht. Solche Fragen gewinnen an Bedeutung, wenn wir in einer Schaffenskrise stecken, wenn unser Hobby an einem Todpunkt angelangt, spannungslos geworden ist. Der Mann flüchtet in solch einer Lage gern in die Technik: Filme und Entwickler ändern, neue Objektive beschaffen, Umstieg auf Mittelformat erwägen. Wenn bei mir Überlegungen dieser Art aufkommen, ist dies ein Früh-Indikator dafür, dass bei mir etwas Grundsätzliches schief zu laufen beginnt. Es wird dann Zeit, Abstand zu gewinnen, die Füsse auf den Tisch legen und überdenken, was ich hier tue – und was ich tun will.

Ihnen möchte ich mit diesem Text Denkanstösse liefern, Ihre Erfahrungen auswertend zu ordnen und so den Aufbruch zu neuen Ufern vorzubereiten; Möglichkeiten anbieten, sie aus der Passivität herauszureissen und aktiv werden zu lassen. Gerade der Einsteiger – aber auch der in einer Sinnkrise steckende Fortgeschrittene – fragt ja häufig verzweifelt, was er denn tun solle? Denken, ist meine Antwort. Erst sich bedenken, dann nachdenken, dann vordenken. Vor allem: Voraus, wenn nicht gar vorausschauend denken. Nötigenfalls auch: Umdenken. Auf jeden Fall jedoch: Selber denken!

Dazu habe ich in zehn Kapiteln Gedanken zu den Grundlagen zur Fotografie versammelt. Natürlich stammen die dargelegten Ideen nicht von mir, sondern ich habe von vielen Seiten Anregungen bekommen. Wie nun ein jeder weiss, bin ich ein lauterer Charakter, und es widerstrebt mir, fremde Gedanken als eigene auszugeben. Ehre, wem Ehre gebührt! Insofern ist auch dieser Text wieder vollgestopft mit Zitaten.

In diesem Artikel hat sich zu unserem alten Freund Andreas Feininger - seine Zitate in kühlem Aufklärungs-blau - Uwe Timm in einem Ausriss aus seinem Buches Morenga (Köln 1985) gesellt. Der Autor hat in einem kurzen, aber schön rundem Text eine Unmenge an klugen Gedankensplittern über die Fotografie untergebracht. Aus diesem Textfragment ergibt sich der Rote Faden. Sie sehen: Nicht einmal eine Struktur konnte ich mir selbst ausdenken.

Ein wohlmeinender Freund hat mir geraten, die Möglichkeiten der Textverarbeitung zu nutzen und alle ja, aber, nun, jedoch und ähnliches zu streichen. Darüber habe ich sehr ernsthaft nachgedacht, am Ende habe ich mich dagegen entschieden: Der Text ist auf etwa 100 Druckseiten projektiert, er soll daher leicht zu lesen sein, also mehr Plauderei als Vorlesung, mehr Füsse hoch und Gerstensaft kühl als Rücken gerade und Haltung gesammelt. Hingegen habe ich mich entschlossen, alle Relativierungen wie meiner Ansicht nach, wie ich das sehe oder ich denke zu streichen: Wessen Meinung als die meine sollte ich schreiben? Und wenn Ihnen meine Meinung nicht passt, wenn es arrogant klingt? Dann sind sie herzlich eingeladen, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese wachsweich zu formulieren. Dies hier ist mein Text, und da soll es robust und unzweideutig zugehen.

Aus Uwe Timm Morenga (Köln 1985)

Die hier geschilderte Episode spielt um das Jahr 1900 in dem kleinen Ort Bethanien, im damaligen Deutsch-Südwest-Afrika (SWA), heute Namibia.

Zum Verständnis des Textes muss man wissen, dass es dort im Jahre 1904 zu einem Aufstand der dort ansässigen Volksstämme kam, die nun partout am deutschen Wesen nicht genesen wollten und folglich von der deutschen, Schutztruppe genannten Militärmacht umgesiedelt werden mussten – teilweise eben auch von dem sonnig-klar-trockenem Hochland auf die der Stadt Lüderitz vorgelagerte Haifisch-Insel, auf der ein Klima wie an der Nordseeküste herrscht: nebelig, nass und feucht. Diese Konzentration hatte natürlich eine enorme Todesrate zu Folge. Auf der anderen Seite jedoch - wo bleibt das Positive, nicht wahr - wurden dadurch weite Landstriche im namibischen Hochland frei; die Kolonialgesellschaft besiedelte sie mit deutschen Farmern. In dem sogenannten "Hottentotten-Krieg" 1904/05 wurden jene Methoden erdacht und erprobt, die - nicht zuletzt auch sprachlich - dann dreissig, vierzig Jahre später im Heimatland des Hermann Schultz allgemein üblich wurden.

... Schultz trug, wie sein Vorbild Richard Wagner, ein dunkelbraunes Seidenbarett. [1]

Vor den ehrfürchtig staunenden Bewohnern Bethaniens, die gebannt standen, verschwand er unter einem schwarzen Tuch, mit dem er sich und den Apparat abdeckte. Wenig später tauchte er, jedes Mal mit glücklichem Lächeln, wieder auf. Er hatte die Erstarrten auf eine Platte gebannt. Diese Platten entwickelte er nachts in seinem mitgeführten Laboratorium. [2] Am nächsten Morgen zeigte er den Bewohnern Bethaniens einige seiner Fotografien. Die Staunenden konnten darauf alle erkennen, nur nicht sich selbst. Da stand stets zwischen lauter bekannten Gesichtern ein Fremder, und das war, wie der jeweilige Betrachter dann von den anderen erfuhr, er selber. Es war, als sähe man zum erstenmal, was man doch täglich vor Augen hatte: die Kirche, die fernen Hügel, die Ebene. Ein Stück erstarrter Zeit, geruch- und lautlos. [3] Schultz erklärte mehrmals den Neugierigen ausführlich die Funktion seines Apparats und hatte einige Mühe, die Bewohner davon zu überzeugen, dass es sich nicht um einen Selbsterkenntnisapparat handle. Man bat ihn, mit dieser nützlichen Maschine, die jedem zeigte, wer er war, beim Stamm zu bleiben. Den Missionar wollte man mit seinen Bibelsprüchen in die Wüste schicken, er würde dann sehen, wie weit er damit käme.

Am Abend sagte Missionar Bam, der seine Enttäuschung nur schwer verbergen konnte, zu Schultz: Der Glaube sei hier noch immer wie eine Eisdecke nach dem ersten leichten Frost. Schultz wollte einen Bildband über das neuerworbene Schutzgebiet Südwest-Afrika veröffentlichen. Den Auftrag dazu hatte er von der Kolonialgesellschaft erhalten, die sich von einem solchen Band, der Land und Leute zeigte, eine Förderung des kolonialen Gedankens in breiten Bevölkerungsschichten versprach. Schultz liess den gewichtigen Apparat von drei auserwählten Männern durch das Land tragen, durch das er mit schwermütigem Blick ritt, immer wieder plötzlich auf eine Stelle zeigend, wo der Apparat aufgestellt werden sollte. Darauf verschwand er dann unter dem schwarzen Tuch: vor der Missionskirche, vor den Pontoks, vor dem Friedhof, und immer wieder vor den Halbmenschen, jene merkwürdigen Bäumen, die er aus den unterschiedlichsten Perspektiven und zu den verschiedensten Tageszeiten ablichtete [4] (Schultz sagte: Licht ist das A und O dieser Kunst, und bevorzugte die Berufsbezeichnung: Ablichter), bis ihm schliesslich jene einzigartige Aufnahme glückte, die einen Halbmenschen in der abendlichen Dämmerung zeigte und – unaufdringlich – etwas von jener fernen Trauer in sich trägt, die Schultz nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in der Landschaft entdeckt hatte. Spuren von Verfall und Untergang lange vor den nasskalten tödlichen Nächten auf der Haifischinsel. [5] Schultz fotografierte den breit grinsenden Händler, die Hundepeitsche in der Hand, neben seinem abgerissenen Diener, der ein Paar blank geputzte Schuhe der Kamera entgegenstreckt; einen langbärtigen katholischen Pater inmitten einer Schar Ovambokinder, in weissen Kleidchen wie Ankleidepuppen zur Kommunion geschmückt; einen Straussen (leicht verwackelt) mit ausgerupften Schwanzfedern; das Portrait einer Hottentottenfrau, die drei an Syphilis leidende Kinder hatte. Schultz bat sie, als er sie fotografierte, ihre Kinder zu sich zu nehmen, obwohl er nur eine Portraitaufnahme machen wollte. Dem Missionar Bam, der fragte, warum er nicht gleich die kranken Kinder aufnehme, antwortete Schutz: Man müsse das Fürchterliche im Gesicht der Frau erkennen können. Das Entsetzliche direkt gezeigt, stosse den Betrachter nur ab. [6] Und schliesslich jenes Foto, das in zahlreichen ethnologischen und lexikalischen Werken eine grössere Verbreitung finden sollte: Alter Mann aus Bethanien. Es zeigt ein verrunzeltes, unendlich faltiges Gesicht, ausgetrocknet wie die Landschaft, in der es aufgenommen wurde. Die Augen im grellen Sonnenlicht verkniffen, zwei Schlitze, so, als hätten sich die charakteristischen Lidfalten als Schutz gegen das gnadenlose Licht gebildet, farblos das dünnen graukrisselige Haar. In diesem verkarsteten Gesicht ist etwas von einer müden Würde, einer Gelassenheit auch jenem neugierigen Apparat gegenüber, hinter dem der Mann unter einem schwarzen Tuch verborgen stand. So kam Lukas, mit dem Gorth einst eine Vortragsreise durch die deutschen Missionsvereine machen wollte, doch noch nach Europa, wenn auch nur für den Augenblick, als er auf das Handzeichen von Schultz wartete, wieder ausatmen zu können.

Der Bildband konnte dann aber doch nicht erscheinen. Die zuständigen Herren vom Präsidium der Kolonialgesellschaft waren nach Durchsicht der vorgelegten Fotografien der Meinung, dass allen Bildern etwas Resignatives, Tristes anhafte, sie daher nicht geeignet seien, den kolonialen Gedanken im Volke zu fördern. [7] So verschwanden die Bilder im Königsberger Archiv von Hermann Schultz und wurden nach seinem Tod in Schuhkartons auf einem Dachboden gelagert, wo sie im April 1945 nach einem Artillerietreffer mit dem Haus verbrannten. Nur vier der 724 Fotografien blieben erhalten. [8] Das Bild von Lukas (Alter Mann aus Bethanien), von dem Halbmenschen, dem katholischen Missionar mit den Kommunionskindern und ein scheinbar nichtssagendes Bild, auf dem ein Rind zu sehen ist, das einem Hottentottenjungen die Hand leckt. Schultz hatte es bei seiner Abreise dem Stamm geschenkt. Er hatte den Einwohnern alle seine entwickelten Bilder vorgelegt und angeboten, ihnen eines dieser Bilder, das sie sich aussuchen könnten, zu schenken. Männer, Frauen und Kinder drängten sich im Missionszimmer, man betrachtete die vorliegenden Bilder und entschied sich zur überraschung von Schultz für dieses Bild, das eine gutgenährte Kuh mit einem Jungen zeigte. [9]

Bis zum Anbruch des grossen Aufstands erzählte man sich von diesem sonderbaren Weissen, der mit seinem schwermütigem Barett langsam suchend durch den Ort ging und von niemandem etwas haben wollte und nichts forderte, einmal abgesehen von seiner Bitte, sich einen Augenblick ruhig zu verhalten, wenn er hinter seinem Apparat stand. [10]

Bevor es aber richtig los geht...

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Immanuel Kant, "Was ist Aufklärung?", 1783

... muss ich noch etwas los werden. Die in diesem Text angesprochenen Fragen interessieren mich schon geraume Zeit, und so habe ich im Laufe der Jahre auch das eine oder andere Buch zur Fotografie gelesen, insbesondere die von sogenannten Kultur-Kritikern. ("Ich liebe Krittikk. Krittikk ist immer gutt!", sagt der Musikmeister Wrschowitz in Theodor Fontanes Stechlin. Denke ich auch! Könnte ja sein, dass mal ein neuer oder gar ein origineller Gedanke auftaucht – dann freue ich mich.)

Im Gesichte Seelenruhe,an den Füssen milde Schuhe

Wilhelm Busch

Ich lese gern und reichlich, nicht unbedingt Exotisches oder gar Esoterisches, aber appetitlich angerichtet und mundgerecht serviert; saftige Sprache und würziger Witz - da wird mir so schnell nichts zu viel. Klar herausgearbeitetes Motiv, sauber verfugter Aufbau, interessanter Inhalt – weder von einer Fotografie noch von einem Text verlange ich mehr. Feininger war nicht nur als Fotograf, sondern auch als Schreiber ein Stilist von hohen Graden. Leider kann man von seinen Nachfolgern weder das eine noch das andere behaupten.

Der Zweck eines Lehrbuches über Fotografie liegt nicht darin, als Lehrer für kindische Experimente zu dienen, sagt Feininger, und analog sage ich dazu: Der Zweck eines Textes über Fotografie ist nicht, den Leser durch rauschend raunende Runen ratend zu ruinieren. Meine Aufgabe als Leser besteht nicht darin, Mutmassungen anzustellen, was gemeint sein könnte, sondern ich erwarte Fakten und eine vollständige, nachvollziehbare Argumentationskette, die ich prüfen und bewerten kann – gegebenenfalls auch anders als der Autor. Daran fehlts den Epigonen meistens, und ich will Ihnen in diesem Abschnitt meine Erfahrungen mitteilen, wie man derartigen Texten, Fragen oder Behauptungen zu Leibe rücken kann.

Das Unrecht hat Name und Adresse

Berthold Brecht

Wenn wir sinnvoll über Fotografie sprechen wollen, dann brauchen wir eine "Terminologie" als Basis, ein Vokabular, eine gemeinsame Begriffswelt – mit der Betonung auf gemeinsam. "Kultur-Kritiker" verwenden gern Worte mit leicht negativem Touch, die sie aber allgemeinen Bedeutung entkleiden: Manipulation, pittoresk, fragwürdig sind Beispiele. Und wir werden dann gezwungen, unsere Zeit mit der Suche nach einer Nebenbedeutung des Wortes zu vergeuden, mit der die Aussage vielleicht richtig sein könnte.

Denn Langeweile ist eben die andere Seite der Faszination. Du lieber Gott – da muss man an der Definition des Wortes Langeweile aber schon sehr rütteln und schütteln, ziehen und zerren, bis die Aussage auch nur einigermassen akzeptabel wird.

Die Besitzergreifung durch die Fotografie vollzieht sich in verschiedenen Formen. Wenn Bill Gates durch seine Firma Corbis den Besitz des Copyrights ergreift, kann ich mit Besitzergreifung noch etwas anfangen. Dass aber die Fotografie einen Besitz haben kann.

Die Begriffe eines Vokabulars entstehen durch Abstraktion. Laut Duden:

Wenn die Abstraktion zielführend sein will, darf die Verallgemeinerung aber nicht zur Bedeutungslosigkeit getrieben werden.

Der Satz "Der Tiger brach aus" wird in dieser bildhaften Form auch dann gern gebraucht, wenn der Tiger auf samtweichen Pfoten durch die Tür entwich, also keineswegs die Gitter seines Käfigs durchbrach. "Der Tiger entwich" wäre in diesem Fall also genauer, verschweigt aber immer noch Wesentliches. "Die Tigerin Albertine (3) entwich durch die vom Pfleger Gerhard G. (56) – Träger einer Zahnprothese sowie eines Jägerhutes - offen gelassene Tür" ist nun übergenau, nennt jedoch Ross und Reiter. Albertine ist nun ein Konkretum, ein Wesen, mit tigerischer Vernunft begabt, und als solches kann sie den Entschluss zu Ausrücken oder den Entschluss zum Bleiben fassen.

Anders aber sieht es mit abstrakten Begriffen aus. "Der Zweite Weltkrieg brach aus". Ach ja? War er denn eingesperrt? Nein, er begann nicht einmal, er wurde begonnen! "Dann brach Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun" muss es heissen, denn alles andere grenzt schon hart an Verniedlichung, an Lügen durch Verschweigen. Kriegsverbrechen sind ja auch keine Verbrechen, die der Krieg beging.

Allgemeine Aussagen über den Krieg oder die Fotografie sind auf diesem Abstraktionsgrad sinnlos. Da müssen wir schon konkreter werden! So habe ich die Erfahrung gemacht, dass es immer dann gefährlich wird, wenn eine Kunstfigur namens der Fotograf ins Spiel gebracht wird, wie etwa in dem Buch über Fotografie der jüngst verstorbenen Susan Sontag. Dieser tut, denkt, macht, meint oder ist dort irgend etwas, einflusslos nämlich oder auch von unkultiviertem Geschmack. Die Hauptfunktion dieses Begriffes besteht darin, als Aufhänger abwertender Adjektive zu dienen.

Die Fotografie ist keine Kunst wie zum Beispiel die Malerei oder Dichtkunst.

Susan Sontag, "über Fotografie" S.144

Betrachten wir etwa die Frage "Welche Automatiken braucht der Fotograf?", die zu diskutieren vor einigen Jahren populär war. Der Fragesteller wies darauf hin, dass alle möglichen Aufnahmen auch schon früher gemacht wurden, dass es also auch ohne Autofokus, automatische Einspulung und Winder, ohne TTL-, Spot- und Matrix-Messung usw. geht. Womit die eigentliche Zielrichtung klar wird: Es geht gar nicht um eine Frage, sondern um die Behauptung "Wer Automatiken benutzt – oder gar braucht - ist ein Weichei".
Nun... in dem hergestellten Zusammenhang sind wir zunächst einmal geneigt, der Behauptung zuzustimmen, denn es ist ja richtig, dass uns alle möglichen Aufnahmen aus frühren Zeiten überliefert sind: Es geht also tatsächlich auch ohne.
Obwohl, ein Unbehagen bleibt.

Erst wenn wir erkennen, dass es sich um eine Suggestivfrage handelt und die Frage umformulieren, etwa über "Welche Automatiken kann der Fotograf brauchen?" zu "Welche Automatik kann der Fotograf wozu gebrauchen?", dann kommen wir unvermittelt dazu, die Verallgemeinerung des Fotografen wieder aufzuheben, und statt dessen wieder von dem Bearbeiter eines fotografischen Tätigkeitsgebiets zu sprechen: Die Frage der Brauchbarkeit – oder besser: dem möglichen Nutzen – einer bestimmten Automatik lässt sich ganz zwanglos entscheiden, wenn wir von einem Sport-Reporter reden, oder einem Ablichter von Studio-Stillleben, oder von einem Landschaftsfotografen oder was weiss ich. Ich will das jetzt hier nicht weiter aufdröseln; die Frage "Welche Automatiken kann ein Wildlife-Fotograf brauchen" wird für sie ja solange von nur mässigem Interesse sein, solange sie dieses Gebiet nicht selbst beackern möchten. Und dann ist immer noch genügend Zeit, mit den Füssen auf dem Tisch und einer gut gekühlten Flasche Gerstensaft darüber zu meditieren, welche Erweiterung IhrAusstattung Ihnen da weiterhilft.

(Auf Seite 56 seines Buches hat Feininger zwanzig Arbeitsgebiete vorgeschlagen; vielleicht ist ja auch etwas für sie dabei.)

Grundsätzlich sind alle Fragen zur Qualität, insbesondere also Fragen mit Worten wie gut, am besten, brauchbar usw. nur in einer Umformulierung mit dem Wörtchen Wozu beantwortbar: Was ist die beste Kamera, der beste Film, das beste Objektiv? Stets lautet die Gegenfrage: Um was zu tun? Fragen – oder als Fragen verkleidete Behauptungen – die so weit abstrahierte Begriffe verwenden, dass Aspekte wie Für wen oder Wozu der Verallgemeinerung zum Opfer fallen, sind nicht beantwortbar – also sinnlos.

Im Einstein-Jahr 2005 ist es an der Zeit, über die Rolle des Betrachters in der Fotografie zu reden: Das Relative in der Relativitätstheorie ist der Standpunkt des Beobachters.

Bei jeder theoretischen Erörterung der Fotografie ist der Begriff der Fotografischen Kette sehr von Nutzen, hier einmal aus Sicht der handelnden Personen:

Für unsere Zwecke können wir die Aufgaben des Selektors, Laborators und Layouters auch kurz als die des Redakteurs (gut Schweizerisch Redaktor) zusammenfassen, so dass wir dann zu den drei Stufen Fotografieren, Präsentieren und Konsumieren kommen.

Obwohl der Betrachter am Ende der Fotografischen Kette steht, ist er eigentlich das Fundament der Fotografie: Ein Bild, das niemanden zu interessieren vermag, nicht einmal seinen Schöpfer, hat keine Existenzberechtigung. Es wird in einem eigenen Kapitel noch ausführlich Vom Zweck eines Bildes die Rede sein; vorausgeschickt werden kann, dass der Zweck sich bestimmt über das Publikum, für das ein Bild durch die Mühle der Fotografischen Kette gedreht wird.

In den Texten von Kultur-Kritkern dominiert die Sicht, dass das Publikum im Kant’schen Sinne unmündig ist: Zum Denken zu dumpf oder zum Denken zu dämlich. Das mag ja nun zahlenmässig sogar richtig sein, es fragt sich aber, ob man diesen Zustand als gottgegeben hinnehmen oder an seiner Beseitigung arbeiten möchte. Jedenfalls möchte ich aber nicht hinnehmen, dass für diesen gewiss betrüblichen Zustand die Fotografie verantwortlich gemacht wird!

In dem Film War Photographer über den Fotografen James Nachtwey wird die Fotografische Kette sehr schön gezeigt: Nachtwey verfertigt im Juni 1999 für den STERN einen Fundus von Aufnahmen über den Krieg in EX-Jugoslawien, und die Redaktion bastelt, jeder Einflussnahme des Fotografen entzogen, an einer Reportage – interessanterweise zu dem Thema "Kriegsgräuel in aller Welt". Andererseits zeigt der Film Nachtwey bei der Vorbereitung der Ausstellung seines Lebenswerkes, als Selektor und Präsentator - nicht jedoch als Laborant.

Wen es interessiert: Streng genommen habe ich noch nie ein Bild veröffentlicht, es wurden lediglich von mir gemachte Bilder von meinen Redaktoren veröffentlicht. Bei uns Amateur-Fotografen ist es ja die Regel, dass wir alle angedeuteten Aufgaben erfüllen - zwar nicht gleichzeitig, aber schön hintereinander. Und vielleicht auch nicht einmalig, sondern auch mehrfach: Sei es, dass wir ein Thema in verschiedenen Jahreszeiten bearbeiten, sei es, dass wir unseren Bestand später unter einem anderen Gesichtspunkten durchmustern.

Daraus lässt sich für eine theoretische Diskussion über Fotografie eine wichtige Erkenntnis ableiten: Fotografie "passiert" nicht, sondern da sind Menschen am Werke!

Gerade, wenn es sich wie bei Nachtwey um "Kommerzielle Fotografie" handelt, sind mehr Menschen tätig als nur der Fotograf, der in so genannten kulturkritischen Texten immer gern für alle übel verantwortlich gemacht wird. Der Name Sebastian Knauer wird auf ewig mit dem Bild des toten Barschel in der Badewanne verbunden bleiben, obwohl nicht er es war, der für die Veröffentlichung des Bildes gesorgt hat. Und schon gar nicht war er es, der diese Ausgabe des STERN gekauft und das Bild betrachtet hat!

Buddemeyer analysiert in seinem Buch Das Foto eine Reportage des STERN über die Rückkehr des zurückkehrenden Chomeini und weist nach, dass die Bilder der Reportage keineswegs das belegen, was die Insert-Texte suggerieren. Soweit ist das ja alles korrekt – nur: dafür kann ja nun weder die Fotografie noch der Fotograf etwas? Da muss doch viel eher der Redaktor zur Verantwortung gerufen werden? Oder: Das verehrte Publikum, das zwar hin schaut, aber nicht hin sieht? Wie wär’s denn damit? Schliesslich wurden die vorherigen Ausgaben der Zeitschrift mit ähnlich aufgemachten Reportagen gekauft. Hat die Leserschaft damit nicht angedeutet, dass sie so etwas gut findet und es so haben will? Dass sie unmündig ist - und es bleiben will?

Die Ehrlichkeit aber gebietet es, Ross und Reiter zu nennen: Das Ross, das hier zuschanden geritten wird, ist "die Fotografie", und der Reiter ist am wenigsten noch der Fotograf, sondern der Redakteur – oder: der Propagandist -, der das unglückliche Tier mit Knute und Kandare zu widernatürlichen Akten zwingt!

Nach dem bisher Gesagten können sie sich mein Entsetzen vorstellen, als ich den folgenden Satz eines von mir sehr geschätzten Autors las:

Moral der Photographie? Das erscheint lächerlich, wo das "Objektiv" am Werk ist. Die Täuschung der Photographie liegt in der Vor-Täuschung "objektiver Wirklichkeit". Es entscheidet ja nicht das Objektiv, sondern das Auge des Fotografen, ausserdem Auswahl, Chemikalien, Vergrösserung, Verkleinerung, Papiersorten. Die "Wirklichkeit" hat also einige Veränderungsprozesse hinter sich.

Heinrich Böll, aus Die humane Kamera, dem Geleitwort zu Weltausstellung der Photographie.

(Musikmeister Wrschowitz in Theodor Fontanes Stechlin: "Diese Ansicht ist bei Dilettanten weit verbreitet.")Die Photographie ist nicht, sie kann deshalb nichts tun, schon gar nicht täuschen. Wer hier täuscht, ist zuallererst der Betrachter, und der täuscht sich! Sich selbst! Wenn man sich denn auf diese Art der Argumentation einlassen möchte: Welche Art der Fotografie würde denn überhaupt den Anspruch "objektive Wirklichkeit" erheben? (Ich hoffe, Ihnen ist beim Lesen dieser Satzkonstruktion genau so unwohl zu Mute wie mir beim Schreiben). Familienfotos und Schnappschüsse mit den zahlenmässig am häufigsten vorkommenden Fotografien? Doch wohl kaum. Die Fotografie in der Werbung, oder, allgemeiner, der "inszenierten Fotografie"? Da khohl lachen: Bei den Barbie-Clones und den Inszenierungen von Wirklichkeit finden doch nur die Unmündigsten untObjektivität irgend einer Art zu glauben.

Bild: Michael Albat

Allenfalls in der "Reportage-Fotografie" könnte ein Unbedarfter diesen Anspruch vermuten. Ich habe mich auch in der Wildlife-Fotografie versucht und einige Bilder dazu veröffentlicht. Glauben sie mir: "Die Wirklichkeit" sieht anders aus. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass sie stunden- ja tagelang fahren und sitzen und schauen und suchen – vergeblich, es passiert nix, und wenn doch, ist es zu weit weg.

Der Anspruch der – im weitesten Sinne so gefassten - "Reportage-Fotografie" besteht aber eben nicht in der Darstellung der Wirklichkeit, sondern er besteht in der Erfassung des entscheidenden Moments, des "Moment décisif”. Was, meinen sie, wird denn fotografiert und selektiert und präsentiert und, vor allem, konsumiert: Der Nachmittagsverkehr auf der Strasse, der Aufbau der Absperrungen, die Anfahrt der minderen Berühmtheiten? Oder eben doch der Moment, in dem offenbar wird, dass die vielen Dollar-Millionen nur zur Anschaffung des Kleidchens, nicht aber für Unterwäsche gereicht haben?

Nein, werter Herr Böll: So geht es ja nun wirklich nicht. Ross und Reiter wollen auch hier genannt sein! Ihr Buch heisst ja auch nicht "Eine Liebe im Umfeld des RAF-Terrorismus", sondern handfest "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Es geht doch!

Und wo wir gerade bei Büchern sind – was halten sie denn von dem Satz Die Täuschung des Buches liegt in der Vor-Täuschung "objektiver Wirklichkeit"? Ein Buch, ein Roman zumal, täuscht nichts vor, und wenn schon von Wirklichkeit die Rede ist, dann von der subjektiven Wirklichkeit des Autors. Und des Se-Lektors, der dieses Buch für den Verlag gekauft und zur Veröffentlichung vorbereitet hat.

Nein: Wenn zur Fotografie etwas Sinn macht, dann eine Paraphrase des wohl meist zitierten Satzes des oben genannten Werkes: Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit [...] sind weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.

Zusammenfassend:

Es heisst im Zitatenschatz dieses Abschnitts "Deshalb sollte sich der Betrachter einer Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg stets die Frage stellen: Wer hat sie wo und wann mit welcher Absicht gemacht?" Diese Frage sollte sich der Betrachter einer jeden Fotografie stellen. Und zusätzlich sollte er sich die Frage stellen, wer für die Veröffentlichung gesorgt hat. Und wenn wir schon dabei sind: Vielleicht sollte er auch gleich noch ein paar mehr Fragen stellen.

Deshalb sollte sich der Betrachter einer Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg stets die Frage stellen: Wer hat sie wo und wann mit welcher Absicht gemacht? Schliesslich wurde hemmungslos inszeniert und gefälscht. So ist das Symbolbild der amerikanischen Kriegsfotografie schlechthin, die Aufnahme von US-Soldaten, die im Februar 1945 auf der Pazifikinsel Iwo Jima ein Sternenbanner aufrichten, ein Fälschung. Da die ein paar Stunden zuvor aufgepflanzte Fahne sehr klein war, machte ein Fotograf der Presseagentur AP das symbolträchtige Bild noch einmal mit einem eindrucksvolleren Sternenbanner. Auch die entsprechende russische Ikone, der Rotarmist, der Anfang Mai im eroberten Berlin auf dem Reichstag eine sowjetische Fahne hisst, inszenierte der Fotograf erst einen Tag nach der Erstürmung des Gebäudes.

Spiegel-Online 31.01.2005

Das Symbolbild der amerikanischen Kriegsfotografie ist ein Fälschung, heisst es. Warum eigentlich – oder genauer: Wo liegt denn die Fälschung? Die Fotografie sagt ja nur, dass hier einige US-Soldaten ein eindrucksvolles Sternenbanner aufrichten, auf Iwo Jima, wie die Bildunterschrift behauptet - und sogar das ist richtig.

Eine Fotografie ist aber zeitlos als solche sagt keineswegs, dass es sich um den Zeitpunkt der Inbesitznahme handelt. Das behauptet nur die Bildunterschrift - also derjenige, der dieses Bild wider besseres Wissen mit ihr veröffentlicht hat.

Es ist ausserdem noch sehr die Frage, ob das neu erworbene Wissen dem Bild Abbruch tut: Als Reportage-Foto, also eines mit dem Anspruch der Für das Publikum aber ist das Bild ein Symbol, nämlich das Symbol der Inbesitznahme, und als solches kann es als Kunstwerk begriffen werden. Delacroix’ Bild der barbusigen Marianne erhebt ja nicht den Anspruch, dass hier ein Abbild der Wirklichkeit wiedergegeben wird. Und selbst wenn es eine solche Marianne gegeben hat, hatte sie vielleicht keinen so schönen Busen...